Roger Hallams „Common Sense“

Überlegungen zu Klima, Kapitalismus, Rebellion #2

„I was there. For the past 20 years. Climate activism. It didn’t work.“ So beginnt die Streitschrift „Common Sense for the 21st Century“ des Mitbegründers von Extinction Rebellion, Roger Hallam. Wer würde dem widersprechen wollen?

Die deutsche Übersetzung des Büchleins sollte eigentlich Ende 2019 im Ullstein Verlag erscheinen. Der zog die Veröffentlichung jedoch zurück, nachdem Hallam den Holocaust in der ZEIT als „just another fuckery“ bezeichnet hatte. Diese Formulierung war allerdings kein Ausrutscher, auch in „Common Sense“ finden sich hochproblematische Passagen, bei denen sich mir beim Lesen die Nackenhaare aufstellen. Aber der Reihe nach.

Hallams Ausgangspunkt ist die globale Erwärmung, ausgelöst durch eine CO2-Konzentration, die längst die 400-ppm-Marke überschritten hat. Sollte die Konzentration 450 ppm erreichen, würde die globale Durchschnittstemperatur um 2 Grad Celsius steigen – ein Wert, der in den Klimakonferenzen der letzten Jahre als gerade noch erträgliches Limit gesetzt wurde. So weit, so unstrittig.

Hallam geht davon aus, dass die Menschheit 450-ppm-Marke deutlich überschreitet und die globale Durchschnittstemperatur dann davon galoppiert. Was passiert dann? Hallam bezieht sich nun auf ein Paper von Yangyang Xua (Texas A&M University) and Veerabhadran Ramanathan (University of California, San Diego):

„one recent scientific opinion stated that at 5C above the pre-industrial mean temperature, we are looking at an ecological system capable of sustaining just one billion people. That means 6-7 billion people will have died within the next generation or two.“ (S.15)1

Die Schlussfolgerung, dass eine fünf Grad wärmere Erde nur eine Milliarde Menschen beherbergen könnte, findet sich in dem Paper nicht. Darauf baut Hallams Argumentation aber auf.

Selbst wenn diese Schätzung zu 90 Prozent falsch sei, fährt Hallam fort, würden in den nächsten 40 Jahren immer noch 600 Millionen von Hunger und Tod bedroht sein. Hallam setzt diese Zahl dann ins Verhältnis:

„This is 12 times worse than the death toll (civilians and soldiers) of World War Two and many times the death toll of every genocide known to history. It is 12 times worse than the horror of Nazism and Fascism in the Twentieth Century.“ (S.15)

Sollten die Regierungen im Angesicht dieses Szenarios nicht gegensteuern, würden sie sich eines Genozids schuldig machen – Hallam schreibt von „our genocidal governments“ (S.15) Wohlgemerkt geht es um ein Szenario, keine Ereignisse, die bereits stattgefunden haben, oder politischen Programme, die einen Genozid mehr oder weniger ankündigen.

Hallam betont dann einen Satz, der zu einem der drei Grundprinzipien von Extinction Rebellion geworden ist: „Tell the truth – then act as if that truth is real.“ (S. 19)

In diesen Ausführungen zeigen sich zwei Probleme. Das eine hat mit dem wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff zu tun. Die gesamte Klimaforschung muss mit Simulationen arbeiten. Sie kann genauso wenig in die Zukunft schauen wie wir alle. Wissenschaftstheoretisch-logisch besteht jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen einer Erklärung und einer Prognose. Eine Erklärung für stattgefundene Ereignisse kann sich als wahr herausstellen. Eine Prognose kann nie wahr sein. Irgendwo scheint auch Hallam das nicht ganz entgangen zu sein, sonst würde er nicht „act as if that truth is real“ schreiben. Was eine „irreal truth“, eine nicht reale Wahrheit sein soll, weiß ich nicht. Erinnert ein bisschen an Rumsfelds „known unknowns“ und „unknown unknowns“.

Das zweite Problem ist, dass Hallams Genozid-Verständnis etwas offenbart, was Carl Amery in seinem Essay „Hitler als Vorläufer“ als fatalen Ausgangspunkt für die Barbarei der Nazis beschrieben hat: Menschheitsgeschichte als Naturgeschichte zu begreifen.

In diesem Denken ist kein Raum zum Argumentieren, zum Verhandeln, zum Abwägen. Die (künftige) Naturgeschichte diktiert das Handeln und rechtfertigt es zugleich, ohne dass Widerspruch noch zugelassen wäre. Logische Konsequenz:

‘The current government hands power to an administration which will call a national climate and ecological emergency and immediately enact measures to deal with the climate and ecological crisis.’ (S. 21)

Hallam sieht sich, sieht die Bewegung Extinction Rebellion außerhalb des politischen Links-Rechts-Spektrums. Immer wieder finden sich Formulierungen, in den von „both the conventional left and right“ die Rede ist. Gewissermaßen die britische Variante der deutschen Hufeisen-Theorie, nach der Links und Rechts gleich weit von der Mitte entfernt und strukturell ähnlich sind.

Oder doch nicht? Dem Text kann man durchaus entnehmen, dass Hallam sich irgendwann mal links verortet haben muss. In der zweiten Hälfte von „Common Sense“ schlägt er aber Töne an, die ich, sagen wir mal, verstörend finde.

Das fängt mit der Taktik von Extinction Rebellion an. Die Störungen und Blockaden des Alltagslebens sind für Hallam keine Handlungen im Sinne der „direkten Aktion“ (die hält er für untauglich) – sie sollen vor allem „Opferbereitschaft“ zeigen:
„Disruption has to be combined with our willingness to show our vulnerability and to suffer. The disruption then simply sets the stage for the symbolism of fearless sacrifice. It is the sacrifice which brings about the social change not the disruption in itself.“ (S. 39)

Journalisten sollen am Tag der Massenaktion in den Hungerstreik treten und „go into existential conflict with the genocidal governing regime as a matter of national duty.“ (S. 52) Plötzlich taucht da also „national duty“ auf.
Dabei bleibt es nicht. Hallam schreibt:

„Words like honour, duty, tradition, nation, and legacy should be used at every opportunity. Not only is this language new and therefore attracts attention but it can be connected to a profoundly egalitarian ideal. In fact, historical research has shown that inequality is usually reduced not by left-wing administrations but by governments facing national crises such as war.“ (S. 60)

Ich würde sagen: Spätestens hier ist die Katze aus dem Sack. Konzepte wie Ehre, Pflicht, Tradition, Nation, Erbe stehen für den „organischen Kollektivismus“, der die traditionelle Rechte des 19. Jahrhunderts kennzeichnet (nachzulesen etwa bei Steven Lukes). Das ist meines Erachtens mitnichten reine Taktik. Hallam schreibt weiter: „There is then a massive opportunity to build up right-wing support and/or demoralise the opposition by parking our tanks on their lawn (to use a right-wing phrase). (S. 60)

Hallams Bezugsrahmen ist die Nation, in seinem Falle Großbritannien. Vielleicht nicht das Großbritannien, das der faschistischen British Union in den 1930ern vorschwebte oder jüngst dem Polit-Clown Nigel Farage. Da scheint eher der Geist des British Empire und der „Bürde des weißen Mannes“ in der Kolonialzeit (Opferbereitschaft!) zu wehen, wenn Hallam schreibt:

„The framing should be to ditch environmentalist language and adopt the language of traditional liberal universalism.“ (S. 60)
und: „We should be speaking a new universalist language, using Martin Luther King’s speeches as a prime example of how to reclaim the framings of national pride to build a broad mass civil disobedience coalition.“ (S. 61)

Sorry, aber Verweise auf Martin Luther King machen den „national pride“ nicht besser.

Die Frage ist für mich nicht, wie viele lokale Gruppen sich demnächst von Roger Hallam distanzieren. Die Frage ist, wie repräsentativ Roger Hallams Denken für Extinction Rebellion ist, wie tief seine Überlegungen in die Bewegung eingewoben sind. Meine Befürchtung: tiefer, als allen lieb sein sollte.

Bleibt dann noch die Frage, was Hallam eigentlich ist. Der Senator Palpatine der Klimabewegung? Die Kapuze hat er ja schon auf.

Extinction Rebellion wäre jedenfalls gut beraten, sich sehr schnell sehr gründlich mit dieser Figur auseinanderzusetzen und alle Verweise nach rechts in die Tonne zu treten.

(nbo, Dez. 2019)

  1. Die Seitenzahlen beziehen sich auf das PDF, dass Hallam auf seine Webseite gestellt hat