Ich bin „in“ und „ex“ bist du

Links, rechts – die klassische Einteilung des politischen Spektrums charakterisiert die politischen Konflikte der Gegenwart immer schlechter. Es ist Zeit für eine neue Orientierung. Hier ist ein Vorschlag.

Die Corona-Pandemie hat seit März 2020 vieles zugespitzt und manches offengelegt, was seit langem schwelte. Die seit Monaten andauernden „Querdenker“-Proteste gegen die Pandemiepolitik vereinen eine seltsame Melange aus linken, bürgerlichen und stramm rechten Protestierenden, die in früheren Zeiten nie gemeinsam auf die Straße gegangen wären. Überraschen kann das nicht. Schon 2019 wurden Fridays for Future oder Extinction Rebellion (XR)1 nicht müde zu betonen, dass sie sich in der politischen Landschaft weder links noch rechts verorten.

Es ist in den 2010er Jahren zunehmend schwieriger geworden, in den politischen Turbulenzen aus Populismus und dem Niedergang der Volksparteien die Orientierung zu behalten. Als etwa am 14. Mai 2017 Emmanuelle Macron wie ein kleiner Sonnenkönig den Elysée-Palast in Paris betrat, hatte er bereits einen politischen Erdrutsch ausgelöst. Innerhalb von wenigen Monaten hatte der 39-Jährige die Kandidaten der etablierten Parteien überflügelt. Und versicherte sogleich, weder links noch rechts zu sein.

Diese Abwendung vom klassischen politischen Spektrum war bereits am Anfang des Jahrzehnts auch im Aufbegehren der Occupy-Bewegung oder der spanischen Indignados, der „Empörten“, zu vernehmen. Auch dort hieß es immer wieder: Wir sind weder links noch rechts. Occupy etwa skandierte stattdessen: „Wir sind die 99 Prozent.“ Ihren politischen Gegner machten sie in dem 1 Prozent der globalen Elite aus Superreichen, Industriellen und Politikern aus.

Zwar ist das Links-Rechts-Schema auch schon im 20. Jahrhundert infrage gestellt worden. Doch hat es lange geholfen, die politische Landschaft zu sortieren. Links gegen Rechts, das war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert der Kampf der Arbeit gegen das Kapital. Der bildete sich auch im Reichstag um die vorletzte Jahrhundertwende ab: hier SPD als Arbeiterpartei, die mit jeder Wahl stärker wurde, dort die kapitalistischen Parteien von Bürgertum und vermögendem Adel. „Das Links-Rechts-Schema passte gut, solange dieser Kampf sich im Konflikt von Opposition gegen Regierung abbildete“, sagt der Soziologe Jan Fuhse, der unter anderem die Parteienlandschaft der Weimarer erforscht.

Links gegen Rechts stand indes von Beginn an für konkurrierende Weltanschauungen. Links, das waren die Republikaner der französischen Revolution, die für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit antraten. Links deshalb, weil sie in der Nationalversammlung der Revolution im September 1789 zur Linken des Versammlungspräsidenten saßen. Rechts hatten sich die Vertreter der alten Weltordnung, des Ancien Régime, niedergelassen, die weiterhin die Monarchie, den Feudalstaat, das gottgegebene Königtum vertraten. Die Sitzordnung mutet wie ein historischer Zufall an – hätten die beiden Parteien nicht genausogut andersherum Platz nehmen können? Tatsächlich entsprach die Sitzordnung noch den Gepflogenheiten im Ancien Régime: Der Platz zur Rechten des Königs war bis zur Revolution Auserwählten, etwa den Prinzen, vorbehalten, während zur Linken die Frauen der Königsfamilie standen.

In dem Gegensatzpaar bildeten sich althergebrachte Weltbilder ab. „Die Vorrangstellung der rechten Seite ist praktisch eine kulturelle Universalie“, schreibt der britische Soziologe Steven Lukes in „The Grand Dichotomy of the Twentieth Century“. Für Lukes ist dies in den indoeuropäischen Sprachen besonders sichtbar: right, diritto, droit oder rechts sind positiv konnotiert, sie stehen für eine rechtmäßige Ordnung. Sinister, gauche, linkisch charakterisieren negative Verhaltensweisen. Dies ist gewissermaßen der Geburtsfehler des modernen politischen Spektrums, unter dem „die“ Linke bis heute leidet.

Zu festen politischen Positionen wurden Links und Rechts erst ab 1819 im französichen Parlament, und über Italien sprach sich die neue Einteilung der politischen Landschaft nach und nach in Europa herum. „Mit der Errungenschaft des allgemeinen Wahlrechts 1848 erreichten Links und Rechts schließlich die Politik der Massen“, schreibt Lukes. Links stand nun für das „Projekt, ‚die Welt besser zu machen‘: Ungerechtigkeit zu bekämpfen, Ungleichheit und Machtgefüge in Frage zu stellen.“ Rechts hingegen für eine hierarchische Ordnung eines naturgewachsenen Kollektivs, in dem nicht alle gleich sind, sein können, weder an Rechten noch an Besitz.

So einfach, so klar hätte es bleiben können. Umso komplizierter wurde es. Die „neue“ Linke des 19. Jahrhunderts zersplitterte sich, in Sozialdemokraten, Anarchisten, Kommunisten. Noch komplizierter: Die „neue“ Rechte in Gestalt des Liberalismus verfocht nicht nur freie Märkte und Freiheit des Eigentums, sondern auch Gleichheit vor dem Gesetz, während Marx die Forderung des Gothaer Programms der SPD nach gleichen Rechten als „veralteten Phrasenkram“ abtat. Lenin verspottete die politische Linke später gar als „kindisch“. Die von ihm begründete Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entpuppte sich als ebenso autoritär und brutal wie etwa das Ancien Régime vor 1789. Die Rechte wiederum brachte den Faschismus hervor.

Der britische Psychologe Hans Eysenck ergänzte folgerichtig das Links-Rechts-Schema 1954 erstmals durch eine zweite Achse: Sie bewertete, wie autoritär oder freiheitlich („libertär“) politische Systeme sind. Diese Systematik half in den vergangenen fünf Jahrzehnten allen, die sich die Mühe machen wollten, bei der Einordnung politischer Parteien, Bewegungen und Konzepte. Doch wieder hat sich die Welt gewandelt: Globalisierung, Digitalisierung, eine zunehmende Verstädterung und das Schwinden der klassischen Industrie haben Gesellschaften hervorgebracht, die wieder um Orientierung ringen – und dabei erneut polarisiert sind.

Der Soziologe Wolfgang Merkel sieht eine neue „Konfliktlinie zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus“, vereinfacht gesagt: zwischen denen, die Gemeinschaften mit klar definierter kultureller Identität hochhalten, und jenen, die urbane Weltoffenheit, universelle Menschenrechte und Individualismus vertreten. Auch diese Unterscheidung liegt quer zum Links-Rechts-Schema. Rechte Kommunitaristen und linke Kosmopoliten etwa lehnen beide den neoliberalen Kapitalismus der Gegenwart ab.

Merkels Unterscheidung beschreibt die Veränderungen der Gesellschaft seit dem Ende des Kalten Krieges durchaus. Doch am Anfang der 2020er Jahre lässt es sich kaum noch leugnen: Die Konsumgesellschaft der vergangenen 30 Jahre hat keine Zukunft. Einerseits zeigen Klimawandel und Ressourcen-Raubbau die „Grenzen des Wachstums“ auf, vor denen der Club of Rome bereits vor einem halben Jahrhundert warnte. Andererseits nehmen immer mehr Menschen im Globalen Süden die Beine in die Hand und fordern ihren Anteil an den Versprechungen der Globalisierung ein, die sie auf den Bildschirmen des Netzes allzulange als fernen Traum besichtigen konnten, während sie in Sweatshops für Hungerlöhne, ohne Arbeitnehmerrechte die Konsumprodukte des Nordens herstellen. Sie nehmen sich mehr und mehr die Freiheit, anderswo nach einem guten Leben zu suchen – wie es die Menschheit immer getan hat.

Ich frage bei Steven Lukes nach: Hat sich das Links-Rechts-Schema  erledigt? Er glaubt dies nicht. Die Linke sei für ihn „ein universalistisches  Projekt, dass die ausschließende Idee zurückweist, dass Menschen hinter gewissen Grenzen, etwa nationalen oder ethischen, weniger zählen“, antwortet Lukes. Sehr sympathisch. Interessant an seiner Antwort ist, dass er das Wort „ausschließend“ verwendet – im Original schreibt er „exclusionary“.

Es weist in Richtung einer neuen Unterscheidung, die seine Grundeinschätzung aufnimmt, aber weitertreibt. Klimawandel und Ressourcenknappheit werfen nicht nur die Frage auf, wie sich Gesellschaften vor ihnen schützen können. Sondern auch, wer ein Recht auf diesen Schutz hat.

Eine Antwort lautet: Jeder Mensch, gerade weil er oder sie ein Mensch ist, ganz gleich, wo auf dieser Welt. Diese Antwort ist inkludierend, einschließend – keiner wird allein gelassen.

Die ausschließende, exkludierende Antwort wäre: Jeder, der das Glück hat, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Alle anderen haben historisches Pech.

Ich nenne diese Unterscheidung zwischen inkludierend und exkludierend der Einfachheit halber „in“ und „ex“ – zwei ebenso simple und prägnante Begriffe wie „links“ und „rechts“. Nur sind die Konnotationen nun umgedreht: „in“ gilt als auf der Höhe der Zeit, „ex“ ist von gestern.

Wie stellt sich das dar, wenn man diese Unterscheidung einmal durchspielt? Zum Beispiel so: „In“ baut keine Mauern, zieht keine Schlagbäume hoch – „ex“ sehr wohl. „In“ kann auch bedeuten, dass eine Demokratie unvollständig ist, so lange sie nicht jeden einschließt und teilhaben lässt. „Ex“ hat hingegen kein Problem damit, dass einige, selbst wenn sie in einem Land geboren sind, nicht wählen dürfen, weil sie nicht den richtigen Pass haben.

„In“ macht auch bei den Pflichten nicht halt: Es bedeutet, dass jeder dazu beiträgt, dass eine Gesellschaft überhaupt funktioniert. „Ex“ hingegen hat kein Problem damit, sein Erspartes in Steueroasen zu packen und zuzusehen, wie sich der Rest abrackert, um über die Runden zu kommen. Es ließen sich viele Beispiele finden.

Nun könnte man einwenden, inwiefern „in“ und „ex“ quer zu „links“ und „rechts“ liegen. Die Antwort ist einfach: Die in-ex-Unterscheidung nimmt die Globalisierung ernst, die dabei ist, eine Weltgesellschaft hervorzubringen. Immer mehr ihrer Bewohner leben an Orten, die der Migrationstheoretiker Mark Terkessidis „Parapolis“ nennt: Städte mit einer „Reihe von weit entfernten und quasi unsichtbaren Vororten“.

Izmir, Casablanca oder Kiew können solche Vororte für Berlin sein, wenn dort Angehörige von Berlinern leben, oder wenn Berliner dort für ein Projekt arbeiten. Die persönlichen Beziehungen der Menschen in der Weltgesellschaft überschreiten längst täglich Grenzen, ja durchlöchern sie. Und es ist wiederum die Weltgesellschaft, die von Klimawandel und Ressourcen-Knappheit betroffen sein wird – nicht nur einzelne Landstriche, die das Pech haben, in der Bahn eines Hurrikans zu liegen. Der Klimawandel berücksichtigt keine Grenzen.

Das Links-Rechts-Schema hingegen ist aus dem Nationalstaat der Französischen Revolution geboren. Eine politische Linke kann bis heute für Gleichheit und Sozialstaat eintreten und zugleich eine nationale Einheit und Integrität hochhalten. Aktuelle Beispiele sind linke Parteien wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland, die als Reaktion auf die Verheerungen der Finanzkrise von 2008 entstanden. In Deutschland vertrat die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht eine ähnliche Position, als sie eine Begrenzung der Zuwanderung förderte. Ökonomisch „Links“ und „ex“ – diese Kombination ist ebenso möglich wie ökonomisch „rechts“ und „in“ im Silicon Valley, das keine Grenzen für die Hightech-Talente aus aller Welt kennt.

Selbstverständlich ist es die freie Entscheidung eines jeden, sich „ex“ zu positionieren. Aber es ist eine Entscheidung gegen die Humanität, ohne die das 21. Jahrhundert ebenso gewalttätig werden könnte wie die Jahrhunderte zuvor.

nbo

  1. Zur Kritik an XR-Vordenker Roger Hallam siehe diesen Beitrag im Sägemehl